3

»Papa ist gestern abend nicht nach Hause gekommen.«

Monica stand mit vor Sorge verzerrtem Gesicht am Fenster des Eßzimmers. Gray aß weiter sein Frühstück. Es gab nur wenig, was ihm den Appetit verderben konnte. Das also war der Grund, warum Monica schon so früh auf den Beinen war, wo sie sich doch gewöhnlich erst gegen zehn oder auch später aus dem Bett schälte. Hatte sie nicht geschlafen, sondern die ganze Nacht auf Guys Rückkehr gewartet? Seufzend fragte er sich, was Monica gegen Guys Ausflüge unternehmen wollte, etwa ihn ohne Abendbrot ins Bett schicken? Er konnte sich nicht erinnern, daß Guy jemals auf Affären verzichtet hatte, wenn auch Renee Devlin viel ausdauernder an seiner Seite blieb als alle anderen davor.

Seiner Mutter Noelle war es vollkommen gleichgültig, wo Guy seine Nächte verbrachte, solange sie diese nicht mit ihm teilen mußte. Sie tat einfach so, als ob es Guys Affären gar nicht gäbe. Weder sie noch Gray maßen ihnen irgendwelche Bedeutung bei. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn es Noelle belastet hätte, das war aber überhaupt nicht der Fall. Es lag nicht daran, daß sie Guy nicht mehr liebte. Gray glaubte schon, daß sie dies auf ihre Art und Weise tat. Aber Noelle hatte eine starke Abneigung gegen Sex. Sie mochte es nicht, berührt zu werden, noch nicht einmal ganz beiläufig. So war es die beste aller Lösungen, wenn Guy sich eine Freundin hielt. Noelle gegenüber benahm er sich immer korrekt. Und obwohl er keinerlei Anstrengungen unternahm, seine Liebschaften zu verheimlichen, so war doch Noelles Stellung als Ehefrau unantastbar. Es war ein sehr altmodisches Arrangement, auf das seine Eltern sich geeinigt hatten. Gray kannte sich gut genug, um zu wissen, daß er als späterer Ehemann ein solches Arrangement für sich nicht gutheißen würde. Dennoch kam es seinen Eltern sehr entgegen.

Monica aber war unfähig, die Sache in diesem Licht zu betrachten. Anders als Gray stellte sie sich ganz auf die Seite ihrer Mutter und glaubte, daß Noelle die Affären ihres Mannes verletzten. Gleichzeitig jedoch vergötterte Monica ihren Vater. Nie war sie glücklicher, als wenn er ihr seine Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Sie hatte eine feste Vorstellung davon, wie eine Familie zu sein hatte: Sie mußte eng zusammenhalten, einen liebevollen Umgang miteinander pflegen, sich immer gegenseitig unterstützen, und die Eltern sollten einander vollkommen ergeben sein. Ihr ganzes Leben hatte sie damit verbracht, ihre eigene Familie diesen Vorstellungen zu unterwerfen.

»Weiß Mama Bescheid?« fragte Gray ruhig. Er unterdrückte die Frage, ob Monica tatsächlich glaube, daß Noelle Guys Abwesenheit etwas ausmachen würde, selbst wenn sie davon wüßte. Manchmal tat ihm seine Schwester richtig leid, aber auf der anderen Seite liebte er sie und wollte ihr nicht weh tun.

Monica schüttelte den Kopf. »Sie ist noch nicht aufgestanden.«

»Warum machst du dir dann solche Gedanken? Wenn sie aufgestanden ist und er dann nach Hause kommt, wird sie annehmen, er habe heute morgen schon etwas zu erledigen gehabt.«

»Aber er ist mit ihr weggewesen!« Monica schnellte zu ihm herum. Ihre Augen waren feucht. »Mit dieser Devlin.«

»Woher willst du das wissen? Vielleicht hat er ja auch die ganze Nacht Poker gespielt.« Guy spielte gerne Poker. Dennoch glaubte Gray nicht, daß das Kartenspiel irgend etwas mit seiner Abwesenheit zu tun hatte. Wie er seinen Vater kannte, und er kannte ihn sehr gut, hatte der die Nacht mit Renee Devlin oder irgendeiner anderen Frau verbracht. Es wäre vollkommen naiv von Renee zu glauben, daß Guy sich ihr gegenüber treuer verhielt als gegenüber seiner eigenen Frau.

»Glaubst du?« fragte Monica, die jeden anderen Grund dem vorgezogen hätte, der der allerwahrscheinlichste war. Er trank den Rest seines Kaffees und schob den Stuhl zurück. »Wenn er kommt, sag ihm, daß ich nach Baton Rouge gefahren bin, um mir das Grundstück anzusehen. Spätestens um drei bin ich wieder hier.« Weil sie immer noch so verloren aussah, legte er

einen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. Aus irgendeinem Grund fehlte Monica die Entscheidungsfreudigkeit und arrogante Selbstsicherheit, die den Rest der Familie auszeichnete. Sogar Noelle, so abgehoben sie auch sein mochte, wußte genau, was sie wollte und wie sie es bekommen konnte. Monica dagegen schien inmitten der starken Persönlichkeiten der anderen Familienmitglieder immer ein wenig hilflos.

Für einen Moment vergrub sie ihren dunklen Kopf an seiner Schulter, wie sie es als kleines Mädchen immer getan hatte, wenn irgend etwas schiefgelaufen und Guy nicht zur Stelle gewesen war, um die Dinge für sie zu richten. Obwohl er nur zwei Jahre älter war als sie, fühlte er sich doch immer als ihr Beschützer. Bereits als Kind hatte er gespürt, daß ihr seine innere Stärke fehlte.

»Was soll ich denn machen, wenn er wirklich mit dieser Hure unterwegs war?« fragte sie mit erstickter Stimme.

Gray versuchte sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Seine Stimme jedoch verriet ihn. »Gar nichts wirst du machen, weil es dich gar nichts angeht.«

Sie fuhr entsetzt zurück und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Wie kannst du nur so etwas sagen? Ich mache mir schließlich Sorgen um ihn!«

»Weiß ich doch.« Es gelang ihm, seine Stimme zu mäßigen. »Es ist aber die reine Zeitverschwendung. Außerdem wird er es dir nicht danken.«

»Du bist immer auf seiner Seite, weil du genauso bist!« Tränen rannen ihr langsam die Wangen hinunter, und sie wandte sich von ihm ab. »Ich könnte wetten, daß dieses Grundstück in Baton Rouge zwei Beine und einen riesigen Busen hat. Viel Spaß dann noch!«

»Den werde ich haben«, erwiderte er sarkastisch. Er würde sich ein Grundstück ansehen, und was sich danach ergäbe, war eine andere Sache. Er war ein kräftiger junger Mann, dessen sexuelle Potenz seit der Pubertät nicht im geringsten nachgelassen hatte. Sie äußerte sich in einem drängenden Reiz zwischen den Beinen und einer Spannung in seinen Hoden. Er hatte das Glück, genügend Frauen bekommen zu können, die sein Verlangen stillten. Gleichzeitig war er zynisch genug zu sehen, daß der Reichtum seiner Familie seine erotischen Eroberungen unterstützte.

Ihm jedoch war es gänzlich gleichgültig, was eine Frau zu ihm hinzog – ob sie seine Persönlichkeit mochte oder ob ihr sein Körper gefiel oder ob sie ein Auge auf das Bankkonto der Rouillards geworfen hatte. Alles was zählte war, daß er einen weichen, warmen Körper unter sich spürte, der seine Lust aufnahm und ihm zumindest zeitweilige Erleichterung verschaffte. Bis jetzt hatte er noch keine Frau wirklich geliebt. Aber den Sex, den liebte er. Daran liebte er alles: die Gerüche, die Empfindungen, die Geräusche. Ganz besonders genoß er diesen einen Moment, wenn er in die Frau eindrang und den kleinen Widerstand ihres Körpers spürte. Dann das Gefühl, aufgenommen und von dem heißen, engen, gleitenden Muskel umschlossen zu werden. Himmel, ja, das war wunderbar. Er war immer sehr vorsichtig, was eine ungewollte Schwangerschaft betraf, und trug auch dann ein Kondom, wenn die Frau beteuerte, sie nähme die Pille. Schließlich hatte so manche Frau in der Hinsicht schon gelogen. Als kluger Mann aber schloß er dieses Risiko von vornherein aus.

Sicher war er sich nicht, aber er nahm an, daß Monica noch immer Jungfrau war. Obwohl sie viel emotionaler war als Noelle, ähnelte sie doch in mancher Hinsicht ihrer Mutter. Sie hielt einen Abstand, den bisher noch kein Mann überwunden hatte. Sie war eine merkwürdige Mischung der Persönlichkeiten ihrer Eltern. Sie hatte etwas von Noelles kühler Distanz, ohne deren Selbstsicherheit zu zeigen. Auf der anderen Seite war sie so gefühlsbetont wie Guy, ohne seinen ausgeprägten Eros geerbt zu haben. Gray dagegen besaß den Eros seines Vaters, gepaart mit Noelles Selbstkontrolle. Anders als Guy, war er nicht der Sklave seiner Gelüste. Er wußte, wann und wie er nein sagen konnte. Und Gott sei Dank suchte er sich seine Frauen mit etwas mehr Geschick aus, als sein Vater es tat.

Er zupfte an einer von Monicas dunklen Haarsträhnen. »Ich rufe Alex an. Vielleicht weiß er ja, wo Papa ist.« Alexander Chelette, einer der Rechtsanwälte von Prescott, war Guys bester Freund.

Ihre Lippen zitterten, aber sie lächelte trotz ihrer Tränen. »Er wird Papa finden und ihm sagen, daß er nach Hause kommen soll.«

Gray atmete aus. Es war wirklich ein Wunder, daß Monica zwanzig Jahre hatte alt werden können, ohne das Geringste über Männer zu wissen. »Ich will es nicht beschwören, aber vielleicht kann er dich ja beruhigen.«

Er hatte die Absicht, Monica vorzulügen, daß Guy Poker spiele, selbst wenn Alex ihm die Nummer des Motelzimmers sagen sollte, in dem Guy sich den Vormittag mit Sex vertrieb.

Er ging in das Arbeitszimmer, von dem aus Guy die riesigen Finanzinteressen des Rouillardvermögens verwaltete und wo Gray von ihm lernte. Gray war vollkommen fasziniert von den Feinheiten der Wirtschafts- und Finanzwelt. So sehr sogar, daß er eine Karriere als Profifootballer abgelehnt und in die Welt der Finanzen eingetreten war. Ein besonders großes Opfer hatte es nicht für ihn bedeutet. Er war zwar gut genug gewesen, um in die Profiwelt einzutreten, aber nur, weil er einen guten Trainer gehabt hatte. Er wußte nur zu genau, daß aus ihm niemals ein Star hätte werden können. Er hätte sein Leben ganz dem Football opfern müssen und hätte dann vielleicht acht Jahre lang spielen können, sofern ihm keine Verletzungen dazwischen gekommen wären. Er hätte dabei gut, wenn auch nicht sensationell gut verdient. Wenn er es bei Licht betrachtete, dann liebte er zwar den Football, aber die Welt der Finanzen lag ihm sehr viel näher am Herzen. Das war ein Spiel, das er viel länger würde betreiben können und in dem er wesentlich mehr Geld verdienen konnte.

Obwohl Guy stolz auf seinen Sohn gewesen wäre, wenn der die Sportlerlaufbahn eingeschlagen hätte, so spürte Gray doch die Erleichterung seines Vaters, als er sich für eine Rückkehr nach Hause entschieden hatte. In den wenigen Monaten seit Grays Collegeabschluß hatte Guy ihm eine Menge von Dingen beigebracht, die man in keinem Lehrbuch finden konnte.

Gray fuhr mit den Fingerspitzen über die glänzend polierte Oberfläche des riesigen Schreibtisches. An einer Seite des Tisches stand ein Foto von Noelle, daneben mehrere von Monica und ihm in verschiedenen Altersstufen. Noelle sah aus wie eine von ihren Untertanen umgebene Königin. Die meisten hätten sie als Mutter gesehen, deren Kinder sich um ihre Knie scharten. Aber Noelle hatte keinerlei mütterliche Züge. Das Morgenlicht fiel auf das Foto und zeigte einige Feinheiten, die normalerweise unbemerkt blieben. Gray hielt inne, um das Porträt seiner Mutter zu betrachten.

Auf eine ganz und gar andere Weise als Renee Devlin war sie eine außergewöhnlich schöne Frau. Renee ähnelte der Sonne, stark und heiß und blendend, während Noelle dem Mond ähnelte. Sie war kühl und abweisend. Sie hatte dichtes, glattes dunkles Haar, das sie kunstvoll verschlungen trug. Und sie hatte wunderschöne blaue Augen, die keines ihrer beiden Kinder geerbt hatte. Sie war keine französische Kreolin, sondern ganz schlicht und einfach Amerikanerin, und manch einer in der Gegend hatte sich seinerzeit die Frage gestellt, ob Guy Rouillard nicht unter seinem Stand heiratete. Dann aber stellte sie sich als viel königlicher heraus, als es je eine Kreolin, die in die Rolle hineingeboren worden war, hätte sein können. Die alten Zweifel waren also längst vergessen. Die einzige Erinnerung daran war sein eigener Name, Grayson, der vor der Heirat ihr Familienname gewesen war. Doch seit langem schon hatte man den Namen zu Gray verkürzt, und die meisten Leute glaubten, daß man ihn deshalb gewählt hatte, weil er dem seines Vaters so ähnelte.

Guys Terminkalender lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Gray setzte sich halb auf den Schreibtisch, griff nach dem Telefonhörer und ging die Liste der heutigen Verabredungen seines Vaters durch. Um zehn Uhr hatte Guy einen Termin mit dem Bankier William Grady. In diesem Moment verspürte Gray zum ersten Mal ein wenig Unsicherheit. Guy ließ es niemals und unter keinen Umständen zu, daß seine Frauengeschichten in irgendeiner Weise seine Geschäfte behinderten. Niemals würde er zu einem geschäftlichen Termin unrasiert und mit nicht gewechselter Kleidung auftauchen.

Zügig wählte er die Nummer von Alex Chelette. Die Sekretärin nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Chelette und Anderson, Anwaltskanzlei«, flötete sie.

»Guten Morgen, Andrea. Ist Alex schon im Büro?«

»Aber natürlich«, erwiderte sie fröhlich, da sie Grays tiefe, samtige Stimme augenblicklich erkannt hatte. »Sie wissen doch, wie er ist. Da müßte schon ein Erdbeben geschehen, um ihn davon abzuhalten, Punkt neun Uhr durch die Tür zu treten. Bleiben Sie dran, ich verbinde.«

Er hörte, wie er auf Wartestellung gelegt wurde. Aber er kannte Andrea viel zu gut, um zu glauben, daß sie ihren Chef über die Anlage von seinem Anruf informieren würde. Gray war von Kindesbeinen an oft genug in dem Büro gewesen, um zu wissen, daß Andrea die Anlage nur dann benutzte, wenn ein neuer Klient vor ihr stand. Meistens drehte sie sich einfach in ihrem Stuhl um, hob die Stimme und rief durch die offene Tür in ihrem Rücken in Alex' Büro hinein.

Gray mußte grinsen, als er sich an Guys schallendes Gelächter erinnerte. Guy hatte von Alex' Versuchen erzählt, Andrea zu dem etwas förmlicheren Umgang zu erziehen, der allgemein in Kanzleien gepflegt wurde. Der arme, gutmütige Alex hatte gegen seine Sekretärin nicht die geringste Chance gehabt. Sie hatte mit einer solchen Kälte auf den Angriff reagiert, daß das ganze Büro wie vereist gewesen war. Statt mit dem üblichen 'Alex' hatte sie ihn mit 'Mr. Chelette' angesprochen, hatte grundsätzlich die Zwischensprechanlage benutzt und dafür gesorgt, daß sich ihre kameradschaftliche Zusammenarbeit in Luft auflöste. Wenn er vor ihrem Schreibtisch gestanden und ein wenig hatte plaudern wollen, war sie aufgestanden und hatte sich auf die Toilette verzogen. Die vielen Kleinigkeiten, die sie normalerweise nebenher erledigte und die Alex die Arbeit sehr erleichterten, dirigierte sie jetzt an Alex weiter. Er mußte nun früher ins Büro und konnte erst später wieder gehen, während Andrea peinlich genau darauf achtete, auf die Minute pünktlich Feierabend zu machen. Sie zu ersetzen stand gar nicht zur Debatte, denn Rechtsanwaltsgehilfinnen waren in Prescott Mangelware. Innerhalb von nur zwei Wochen hatte Alex klein beigegeben, und Andrea rief ihm von Stund an wieder durch die offene Tür hindurch zu.

Es knackte in der Leitung, und Alex hob ab. Seine langsame, gutmütige Stimme drang durch den Hörer. »Guten Morgen, Gray. Du bist ja schon früh auf den Beinen.«

»So früh nun auch wieder nicht.« Er war immer schon früher als Guy aufgestanden, aber die Leute schlossen vom Vater auf den Sohn. »Ich bin auf dem Weg nach Baton Rouge, um mir ein Grundstück anzusehen. Hast du eine Ahnung, wo mein Vater steckt?«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine kurze Pause. »Nein, leider nicht.« Wieder eine vorsichtige Pause. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Gestern nacht ist er nicht nach Hause gekommen, und um zehn hat er einen Termin mit Bill Grady.«

»Verdammt«, sagte Alex leise, aber Gray konnte die Aufregung in seiner Stimme hören. »Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, daß er ... ach, verdammt noch eins!«

»Alex.« Grays Stimme war scharf wie frisch gewetzter Stahl, der sich durch Draht bohrt. »Was ist denn los?«

»Ich schwöre, Gray, ich hätte nicht geglaubt, daß er es wahr machen würde«, erwiderte Alex geknickt. »Vielleicht hat er es ja auch gar nicht, vielleicht hat er lediglich verschlafen.«

»Was wahr machen würde?«

»Er hat bereits mehrmals davon gesprochen, aber immer nur, wenn er betrunken war. Ich schwöre, niemals hätte ich geglaubt, daß es ihm ernst damit wäre. Himmel, wie konnte er so etwas denn ernst meinen?«

Der Plastikhörer knirschte in Grays zupackendem Griff. »Was ernst meinen?«

»Deine Mutter zu verlassen.« Alex schluckte hörbar. »Und mit Renee Devlin durchzubrennen.«

Behutsam legte Gray den Hörer zurück auf die Gabel. Eine Weile saß er vollkommen regungslos da und starrte auf das Telefon. Es konnte nicht sein ... so etwas würde Guy einfach nicht tun. Warum sollte er auch? Warum sollte er mit Renee durchbrennen, wenn er nach Belieben mit ihr vögeln konnte? Alex mußte sich irren. Niemals hätte Guy seine Kinder oder sein Geschäft ... aber dann wiederum war er so erleichtert gewesen, als Gray sich gegen den Football entschieden hatte. Außerdem hatte Guy ihn im Schnellverfahren mit allen wesentlichen geschäftlichen Vorgängen vertraut gemacht.

Einen gnädigen Augenblick lang konnte es Gray einfach nicht glauben. Doch er war viel zu sehr Realist, als daß dieser Moment lange hätte dauern können. Die Erstarrung legte sich, und eine ungebremste Wut nahm ihre Stelle ein. Wie eine angreifende Schlange schnellte er nach dem Telefon herum und schleuderte es durch das in tausend Scherben zerberstende Fenster.

Sobald Scottie sein Frühstück gegessen hatte, verließ Faith die Baracke. Sie nahm ihn mit zu dem kleinen Bach, wo er im flachen Wasser herumplanschen konnte und versuchte, die Fische zu erwischen. Das gelang ihm natürlich nicht, aber es machte ihm Spaß, es immer wieder zu versuchen. Es war ein wunderbarer Morgen. Die Sonne schien durch die Bäume hindurch auf das schnell fließende Wasser. Alles duftete herrlich frisch. Es waren gute, saubere Gerüche voller guter und sauberer Farben, die den säuerlichen Alkoholgestank wettmachten, den die vier Menschen verströmten, die zu Hause ihren gestrigen Rausch ausschliefen.

Zu glauben, daß Scottie seine Kleidung nicht naß machen würde, war geradezu so, als ob man von der Sonne erwarten würde, im Westen aufzugehen. Als sie den Bach erreicht hatten, zog sie ihm die Hose und das Hemd aus und ließ ihn mit lediglich einer Windel bekleidet im Wasser planschen. Sie hatte für den Weg nach Hause eine trockene Windel mitgebracht. Sorgfältig hängte sie die Kleidungsstücke über einige Äste und watete dann selbst in den Bach, um Scottie im Auge zu behalten. Wenn eine Schlange auf ihn zukommen sollte, würde er nicht wissen, daß er achtgeben mußte. Sie hatte zwar keine Angst vor Schlangen, aber sie war vorsichtig.

Ein paar Stunden ließ sie ihn vor sich hinplanschen, dann hob sie ihn aus dem Wasser. Wild trampelnd protestierte er. »Du kannst nicht länger drin bleiben«, erklärte sie ihm. »Sieh doch mal, deine Zehen sind schon verschrumpelt wie alte Pflaumen.« Sie setzte sich auf den Boden und wechselte seine Windel, dann zog sie ihn an. Das war nicht einfach, denn er fuchtelte immer noch wie wild herum und versuchte, ins Wasser zu entfliehen.

»Laß uns Eichhörnchen suchen gehen«, sagte sie. »Kannst du eins entdecken?«

Abgelenkt blickte er sofort mit vor Aufregung aufgerissenen Augen in die Bäume und suchte sie nach Eichhörnchen ab. Faith nahm sein kleines Händchen und führte ihn langsam durch den Wald auf einem gewundenen Weg zurück zu ihrer Baracke. Wenn sie dort anlangten, war vielleicht auch Renee wieder zu Hause.

Obwohl ihre Mutter schon häufiger die Nacht über weggeblieben war, sorgte sich Faith. Sie unterdrückte ihre Befürchtungen, aber unterschwellig hegte sie doch immer die Angst, daß Renee eines Tages gehen und niemals nach Hause zurückkehren würde. Faith war realistisch genug um zu wissen, daß Renee augenblicklich verschwunden wäre, wenn sie einem Mann begegnete, der ihr ein besseres Leben versprach. Vermutlich war Guy Rouillard sowieso der einzige Grund, der sie noch an Prescott band. Und was konnte der ihr schon geben? Wenn er sie eines Tages verlassen sollte, dann würde sich Renee nicht länger in Prescott aufhalten, als sie zum Zusammenpacken ihrer Sachen benötigte.

Scottie hatte zwei Eichhörnchen entdeckt, eines auf einem Ast und ein anderes, das gerade einen Stamm hinaufkletterte. Zufrieden ließ er sich von Faith führen. Als sie sich jedoch dem Haus näherten und er merkte, wohin sie gingen, machte er grunzende Geräusche und versuchte, sich von Faith loszureißen.

»Hör auf damit, Scottie«, sagte Faith und zog ihn aus dem Wald heraus auf die unbefestigte Lehmstraße, die auf ihre Baracke zuführte. »Ich kann jetzt nicht länger mit dir spielen, ich muß Wäsche waschen. Aber ich spiele Auto mit dir, wenn ich...«

In diesem Augenblick hörte sie hinter sich das tiefe Brummen eines Motors. Ihr erster, erleichterter Gedanke war: Mama ist wieder zurück. Aber es war nicht Renees schickes rotes Auto, das ihnen aus der Kurve entgegenkam. Es war ein schwarzes Corvette Cabrio, das als Ersatz für den grauen Wagen gekauft worden war, den Gray während seiner Schulzeit gefahren hatte. Faith erstarrte und vergaß sowohl Scottie als auch Renee. Ihr Herz stand still, dann schlug es so heftig gegen ihre Rippen, daß ihr fast übel wurde. Gray auf dem Weg zu ihnen!

Sie wurde so von Freude übermannt, daß sie fast vergessen hätte, Scottie vor den Rädern auf den Grasrand hinaufzuziehen. Gray. Ihr quoll das Herz über. Ein leichtes Zittern begann in ihren Knien und stieg allein bei dem Gedanken, mit ihm zu sprechen, ihren schlanken Körper hinauf. Und wenn es auch nur ein gemurmelter Gruß sein sollte.

Sie starrte ihn an und nahm jeden seiner Gesichtszüge wahr, während er auf sie zusteuerte. Obwohl sie nicht viel von ihm sehen konnte, erschien er ihr doch etwas schmaler als zu seiner Footballzeit. Auch sein Haar war etwas länger. Seine Augen waren ganz die alten, dunkel wie die Sünde und ebenso verführerisch. Sein Blick streifte sie, als sein Wagen an Scottie und ihr vorbeifuhr und er höflich mit dem Kopf nickte. Scottie zerrte vor Aufregung über das schöne Auto an ihrer Hand. Er liebte Renees Auto, und Faith achtete darauf, daß er nicht in seine Nähe kam, da es ihre Mutter ärgerte, wenn er die Abdrücke seiner kleinen Hände darauf hinterließ.

»Also gut«, flüsterte Faith, immer noch ganz verzückt. »Wir werden uns das schöne Auto einmal ansehen.«

Sie traten wieder auf die Straße hinaus und folgten der Corvette, die jetzt vor der Baracke geparkt hatte.

Gray schwang erst das eine, dann das andere Bein über die Tür und stemmte sich aus dem tiefliegenden Auto, als sei es lediglich ein Spielzeugwagen. Er stieg die zwei ausgetretenen Stufen zum Haus empor, öffnete die Drahttür und ging hinein. Faith bemerkte, daß er nicht angeklopft hatte. Irgend etwas war nicht in Ordnung.

Sie beschleunigte ihren Schritt, so daß Scottie auf seinen kurzen Beinchen nach Luft rang und einen protestierenden Laut von sich gab. Der Gedanke an sein schwaches Herz erschreckte sie. Sie hielt inne, beugte sich zu ihm hinunter und hob ihn auf den Arm. »Tut mir leid, mein Schatz. Ich wollte nicht, daß du rennen mußt.« Ihr Rücken schmerzte unter der Last des Kindes, aber sie lief sogar noch schneller. Winzige Steinchen rollten, von ihr unbeachtet, unter ihre nackten Füße, und kleine Staubwolken stoben unter jedem ihrer Schritte her vor. Scotties Gewicht schien sie zu erdrücken und zu verhindern, daß sie die Baracke erreichte. Das Blut schoß ihr in die Ohren, und eine schreckliche Vorahnung verengte ihr so sehr die Brust, daß sie zu ersticken glaubte.

Von Ferne hörte sie ein tiefes Brüllen, das sie als das ihres Vaters erkannte. Daneben hörte sie Grays noch tiefere, noch dröhnendere Stimme. Auf ihren dünnen Beinen rannte sie keuchend auf die Baracke zu. Die Drahttür quietschte, als sie sie aufriß und hineinstürmte, nur um innezuhalten und sich erst einmal an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen.

Unverständliches Schreien und Fluchen war zu hören, es schien ihr alles wie ein Alptraum.

Nach Luft ringend, setzte sie Scottie auf dem Boden ab. Der war von dem Geschrei vollkommen verängstigt und vergrub sein Gesicht an ihrem Bein.

Als das Klingeln in ihren Ohren nachließ und sie sich an das schummrige Licht gewöhnt hatte, verstand sie das Gebrüll und wünschte sich, daß sie es nicht hätte verstehen müssen.

Gray hatte Amos aus dem Bett gezogen und zerrte ihn in die Küche. Amos schrie und fluchte und hielt sich am Türrahmen fest, um sich Gray zu widersetzen. Er konnte jedoch dem kräftigen Mann nicht viel entgegensetzen, sondern lediglich versuchen, sein Gleichgewicht zu halten, während Gray ihn in die Mitte des Raumes zerrte.

»Wo ist Renee?« bellte Gray und beugte sich drohend über Amos, der zurückzuckte.

Amos rotgeränderter Blick schoß durch das Zimmer, als ob er nach seiner Frau Ausschau hielte. »Hier ist sie nicht«, murmelte er.

»Daß sie nicht hier ist, kann ich auch sehen, du elender Halunke! Ich will wissen, wo verdammt noch mal sie ist!«

Amos schaukelte auf seinen bloßen Füßen vor und zurück und rülpste. Er stand mit nacktem Oberkörper und noch immer geöffnetem Hosenschlitz da. Sein ungekämmtes Haar stand in alle Himmelsrichtungen, er war unrasiert, seine Augen waren blutunterlaufen, sein Atem stank vom Alkohol und vom Schlaf. Gray dagegen ragte mit seinem schlanken, muskulösen, fast zwei Meter langen Körper stolz über ihm auf. Sein schwarzes Haar war ordentlich nach hinten gebürstet, sein weißes Hemd makellos und seine Hose maßgeschneidert.

»Sie haben kein Recht, mich hier so herumzustoßen. Mir ist vollkommen egal, wer Ihr Vater ist«, beschwerte sich Amos. Doch trotz seines Widerspruchs zuckte er bei der kleinsten Bewegung Grays zurück.

Russ und Nicky hatten sich aus ihren Betten gewälzt, aber sie machten keinerlei Anstalten, ihrem Vater zur Seite zu stehen. Einem wütenden Gray Rouillard die Stirn zu bieten war nicht ihre Sache.

»Wo ist Renee?« wiederholte Gray mit eisiger Stimme seine Frage.

Amos zuckte mit den Schultern. »Offenbar ist sie ausgegangen«, murmelte er verstockt.

»Wann?«

»Was wollen Sie damit sagen, wann? Ich habe geschlafen. Wie in aller Welt soll ich das wissen, wann sie aus dem Haus gegangen ist?«

»Ist sie letzte Nacht nach Hause gekommen?«

»Natürlich ist sie das! Verdammt, was wollen Sie eigentlich sagen?« brüllte Amos. Das Lallen in seiner Stimme rührte vom Alkohol, der ihm noch immer im Blut war.

»Ich sage nichts anderes, als daß Ihr Hurenweib durchgebrannt ist!« schrie Gray mit wutverzerrtem Gesicht.

Der nackte Schrecken durchzuckte Faith, und wieder verschwamm alles vor ihren Augen. »Nein«, hauchte sie.

Gray schnellte mit dem Kopf zu ihr herum. Seine dunklen Augen funkelten wütend, während er sie maß. »Du machst immerhin einen nüchternen Eindruck. Weißt du, wo Renee ist? Ist sie letzte Nacht nach Hause gekommen?«

Faith schüttelte benommen den Kopf. Ein dunkles Grauen erfüllte sie. Sie hatte den ätzenden, gelben Geruch der Angst in ihrer Nase – ihrer eigenen Angst.

Seine Oberlippe kräuselte sich und zeigte bleckend seine weißen Zähne. »Das hatte ich auch nicht angenommen. Sie ist mit meinem Vater durchgebrannt.«

Wieder schüttelte Faith den Kopf und konnte gar nicht damit aufhören. Nein. Das Wort hallte durch ihren Kopf. Lieber Gott, bitte nicht.

»Lügner!« schrie Amos, schwankte auf den wackligen Tisch zu und sank auf einen der Stühle. »Renee würde mich und die Kinder nicht verlassen. Sie liebt mich. Ihr herumhurender Vater ist mit irgendeiner neuen Eroberung ...«

Wie eine angreifende Schlange schoß Gray herum. Seine Faust traf Amos' Kinn, und sowohl Amos als auch der Stuhl fielen krachend zu Boden.

Vor Schrecken aufheulend, vergrub Scottie sein Gesicht noch tiefer an Faiths Körper. Sie aber war so entsetzt, daß sie noch nicht einmal tröstend ihren Arm um ihn legen konnte. Er fing an zu weinen.

Amos strauchelte auf die Beine und versuchte, den Tisch zwischen sich und Gray zu schieben. »Warum haben Sie mich geschlagen?« jammerte er und hielt sich das Kinn. »Ich habe Ihnen nichts zuleide getan. Was auch immer Renee und Ihr Vater getan haben, hat doch nichts mit mir zu tun!«

»Was soll denn das ganze Gebrüll hier?« ertönte Jodies betont lässige Stimme, die sie immer dann gebrauchte, wenn sie einem Mann gefallen wollte. Faith blickte in Richtung Tür und riß entsetzt die Augen auf. Jodie lehnte im Rahmen, ihr rotblondes, ungebürstetes Haar hatte sie über ihre bloßen Schultern geworfen. Sie trug lediglich ein paar spitzenverzierte Höschen und hielt sich geziert ein Jäckchen zu, das ihren Busen gerade eben bedeckte. Mit großen Augen, deren so offensichtlich falsche Unschuld Faith zusammenzucken ließ, blinzelte sie Gray an.

Gray betrachtete sie angeekelt, zog die Lippen zusammen und wandte sich ab. »Bei Anbruch der Dämmerung seid ihr hier alle verschwunden«, sagte er in Amos' Richtung. »Sie verpesten unser Land mit Ihrem Gestank, und ich habe es satt, den in meiner Nase zu haben.«

»Was, wir sollen verschwinden?« krächzte Amos. »Sie überheblicher Schurke, Sie können uns hier nicht einfach rausschmeißen. Es gibt da schließlich Gesetze ...«

»Aber nicht für Leute, die keine Miete zahlen«, erwiderte Gray mit eiskaltem Lächeln. »Die Kündigungsschutzgesetze finden bei Landstreichern keine Anwendung.« Er drehte sich um und schritt auf die Tür zu.

»Moment!« rief ihm Amos hinterher, und sein erschrockener Blick raste im Zimmer umher, als ob er dort eine Lösung finden würde. »Nicht so voreilig. Vielleicht ... vielleicht haben sie ja nur einen längeren Ausflug gemacht. Sie werden wiederkommen. Genau, Renee wird zurückkommen. Sie hat schließlich überhaupt keinen Grund abzuhauen.«

Gray lachte rauh auf, während sein abschätziger Blick die ärmliche Einrichtung der Baracke streifte. Irgend jemand, vermutlich die jüngste Tochter, hatte versucht, sie sauberzuhalten. Aber das war gerade so, als ob man versuchen würde, die Flut aufzuhalten. Amos und die beiden Jungen, die lediglich eine jüngere Variante ihres Vaters darstellten, beobachteten ihn verstockt. Die ältere Tochter stand immer noch in der Tür und versuchte ihm so viel wie möglich von ihren Brüsten zu zeigen, ohne den dünnen Umhang ganz fallenzulassen. Der kleine mongoloide Junge hing schluchzend am Rockschoß der Jüngsten. Das Mädchen stand wie versteinert da und starrte ihn aus riesigen, glänzend grünen Augen an. Ihre dunkelroten Haare hingen ihr unordentlich über die Schultern, und ihre nackten Füße waren staubig.

So dicht neben ihm konnte Faith seinen Gesichtsausdruck gut erkennen. Als er das Umfeld abschätzend maß, zuckte sie zusammen. Dann schließlich blickte er sie an. Er taxierte ihr Leben, ihre Familie und sie selbst und empfand das alles als vollkommen wertlos.

»Sie hat keinen Grund abzuhauen?« fragte er verächtlich. »Ich denke eher, sie hat nicht den mindesten Grund, hierher zurückzukommen!«

Er schwieg und ging an Faith vorbei auf die offene Drahttür zu. Sie knallte gegen die Wand, dann fiel sie zu. Der Motor seines Wagens heulte auf, und einen Augenblick später war Gray verschwunden. Faith stand wie versteinert mitten im Zimmer, während sich Scottie immer noch weinend an sie klammerte. Sie fühlte sich völlig benommen. Sie wußte, daß sie irgend etwas unternehmen sollte, aber was? Gray hatte gesagt, daß sie hier verschwinden mußten. Das Ausmaß dieses Befehls lähmte sie. Verschwinden? Wohin sollten sie denn gehen? Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie konnte lediglich ihre bleischwere Hand heben und tröstend Scotties Haare streicheln: »Ist schon gut, ist schon gut.« Dennoch wußte sie genau, daß das gelogen war. Mama war weg. Nie wieder würde alles wieder gut sein.